Kapitel 1: Kiana
Frauen, hütet eure Eierstöcke.
Die getönten Glastüren glitten auf, als ich zum Ausgang des Flaggschiffs der Kingcaid Hotels an der Uferpromenade von Seattle eilte. Meine Absätze klackten über den polierten Marmorboden und das Geräusch hallte in der luxuriösen, riesigen Lobby wider.
Ich stürmte durch die Tür und rannte die Steintreppe hinunter auf die Straße. Wütende Tränen stachen mir in den Augen und ein feuriges Brennen machte sich in meiner Kehle breit. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke hoch und bog scharf nach links ab. Eine Frau, die es eilig hatte, entging nur knapp einem Zusammenstoß mit mir. Ich wich ihr aus und verdrehte mir dabei den Knöchel. Ich schrie auf und humpelte zu einer Bank in der Nähe, auf die ich mich fallen ließ, um meinen Knöchel zu untersuchen und über die schmerzende Stelle zu reiben.
Wie konnte er es wagen?
Wie konnte dieser Dreckskerl es wagen, seine Hand auf meinen Hintern zu legen und ihn dann auch noch zu drücken, als würde ich ihm gehören?
Als ob sein Verhalten normal wäre?
Salonfähig?
Andererseits war es das wahrscheinlich auch. Männer wie er, Männer in Machtpositionen, missbrauchten Frauen jeden Tag. Man musste sich nur den Hashtag metoo oder unzählige andere Bewegungen ansehen, die es mittlerweile jede zweite Woche in die Nachrichten schafften. Doch so intensiv die Gesellschaft auch darüber diskutierte und sich einig war, dass es nicht richtig war, änderte sich nichts.
Wie kam es, dass ich diese Art von unerwünschter und ungerechtfertigter Aufmerksamkeit anzog? Warum dachten manche Männer, sie könnten mich unaufgefordert betatschen? Stimmte etwas nicht mit mir oder erweckte ich unbewusst den Eindruck, dass ich dafür offen war?
Das letzte Mal, als mir etwas Ähnliches widerfahren war, hatte es mich all meinen Mut gekostet, das Richtige zu tun und mich zur Wehr zu setzen. Tja, jetzt wusste ich, was mir das gebracht hatte. Einen Termin beim zuständigen Arbeitsamt und den Verlust von jemandem, von dem ich gedacht hatte, er würde immer auf meiner Seite stehen. Von jemandem, von dem ich geglaubt hatte, dass er mich aufrichtig lieben würde.
Lektion gelernt – auf die harte Tour.
Wut durchströmte mich, die Knöchel meiner geballten Fäuste liefen weiß an und mein pochendes Herz drohte mir aus der Brust zu springen.
Aber das war noch nicht alles. Mir war auch noch speiübel. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen bei dem Gedanken daran, dass ich für einen flüchtigen Moment überlegt hatte, zu schweigen. Dass ich zugelassen hatte, dass er seine dreckigen Hände an mich legte, nur um einen Job zu bekommen, den ich so sehr gewollt hatte.
Ein Würgereiz bahnte sich an und ich erschauderte bei dem Gedanken, dass ich diesen Job so dringend hatte haben wollen, dass ich tatsächlich in Erwägung gezogen hatte, mich auf diese Weise von diesem Kerl behandeln zu lassen. Wenn auch nur für eine Sekunde. Kein Job war das wert.
Gott, mir war zum Weinen zumute, aber hier zu sitzen und mir die Augen aus dem Kopf zu heulen, würde auch nicht helfen. Ich hatte mir den Arsch aufgerissen, um die ersten Interviewrunden zu überstehen, und eine Präsentation zusammengestellt, die, das könnt ihr mir glauben, großartig war. Ich hatte eine Pause verdient und doch war ich nicht einmal dazu gekommen, meinen Laptop aufzuklappen.
Ich humpelte an der Uferpromenade entlang zu meinem Hotel, das weit weniger luxuriös war als das Fünf-Sterne-Hotel, das ich gerade verlassen hatte. Es war alles, was ich mir leisten konnte, und angesichts der Kosten für den Flug von meiner Heimatstadt Chicago nach Seattle, die auch noch dazukamen, würde es das Beste sein, was ich mir für eine ganze Weile würde leisten können. Vor allem, nachdem ich den Grund für meinen Besuch gerade in den Sand gesetzt hatte.
Verdammt! Es war so ungerecht. Die Chance auf ein Praktikum bei den Kingcaid Hotels bot sich nicht jeden Tag.
Die Marke Kingcaid war riesig. Die Eigentümer hatten bei unzähligen Geschäften die Finger im Spiel und nicht nur bei Hotels. Sie hatten Unternehmen auf der ganzen Welt, von Kreuzfahrtschiffen bis Casinos, von Restaurants bis Nachtclubs, und besaßen sogar Film- und Fernsehstudios.
Und wenn ich mich recht erinnerte, hatten sie sogar ein Musiklabel. Keines, das den großen Firmen wie Sony oder Warner Konkurrenz machen würde, aber soweit ich wusste, hatten sie einige solide Künstler unter Vertrag. Aufstrebende Bands, die es zu etwas bringen würden.
Teil einer solchen Organisation mit einer so großen Reichweite zu werden, wäre ein perfektes Sprungbrett für meine Karriere gewesen und hätte mir eine Fülle von Möglichkeiten eröffnet.
Und nun musste ich wegen eines Idioten, der seine Hände nicht bei sich behalten konnte, wieder Burger braten und kellnern, während ich das Internet nach Praktika durchforstete, die in meinem gewählten Fachgebiet, dem Hotelmanagement, so selten waren wie James Bond, der die Chance ausschlug, ein schönes Mädchen zu verführen.
Ich kramte in meiner Handtasche nach meinem Handy, um Mom anzurufen. Sie hatte wahrscheinlich den ganzen Tag am Telefon gesessen, obwohl ich ihr immer wieder gesagt hatte, dass mein Vorstellungsgespräch erst um halb sechs Uhr abends stattfinden würde.
Die Uhr auf dem Bildschirm zeigte fünf Uhr fünfunddreißig.
Den Unterlagen, die mir die Personalabteilung des Hotels geschickt hatte, war zu entnehmen, dass das Gespräch etwa eine bis anderthalb Stunden dauern würde.
Fluchtartig den Raum zu verlassen, ohne dem Hotelmanager die Gelegenheit zu geben, auch nur eine einzige Frage zu stellen, nachdem er mir in die rechte Pobacke gekniffen hatte, hatte die Dauer des Gesprächs jedoch drastisch verkürzt.
Ich war stinksauer auf den Kerl, aber auch auf mich selbst. Ich hätte ihn ohrfeigen, Zeter und Mordio schreien, oder irgendetwas anderes tun sollen, egal was. Stattdessen hatte ich mit offenem Mund dagestanden und war einen Moment später einfach gegangen. Ich hatte nicht einmal die verdammte Tür zugeknallt.
Diese Sache war so was von ätzend. Ätzend. Obwohl das wahrscheinlich die falsche Wortwahl war. Ich wette, der Grapscher hätte mir sogar noch Bonuspunkte gegeben, wenn ich mich hingekniet und seine ekelhafte Fantasie erfüllt hätte.
Ich wählte Moms Nummer und legte auf, bevor die Verbindung hergestellt war. Ich konnte nicht den Mut aufbringen, mit ihr zu sprechen. Also tat ich das, was jeder Feigling am besten hinbekam: Ich schrieb ihr eine Textnachricht, die automatisch in anderthalb Stunden abgeschickt würde. Ich fasste mich kurz, sagte ihr, dass ich noch eine Weile auf eine Zu- oder Absage warten müsste und dass das Gespräch mich erschöpft hatte, versprach aber, sie vor meinem morgigen Rückflug anzurufen. Sobald ich wieder zu Hause war, würde ich ihr dann alles erzählen. Aber ein Gespräch wie dieses mitten in Seattle zu führen, stand an vorletzter Stelle auf meiner Liste.
Direkt darunter stand nur noch, bei einem Vorstellungsgespräch für meinen Traumjob sexuell belästigt zu werden.
Als mein Hotel in Sichtweite kam, löste der Gedanke, hineinzugehen und mich in das triste Zimmer mit den kratzigen Bettbezügen, den abgewetzten weißen Wänden und dem Teppich, der dem Wort fadenscheinig eine neue Bedeutung verlieh, zu setzen, Depressionen in mir aus.
Mein Magen knurrte. Ich war so nervös wegen meines Vorstellungsgesprächs gewesen, dass ich nur einen Apfel zum Frühstück hinuntergebracht und seitdem nichts mehr gegessen hatte. Gut zu wissen, dass ich noch essen konnte, obwohl die zerfledderten Fragmente meiner Träume nun quer in Seattle verstreut waren. Andererseits gab es nur wenig, was mich vom Essen abhalten konnte. Ich war eines der seltenen Exemplare der menschlichen Rasse, die sich sogar noch mit einer Magenverstimmung durch eine Galerie gegrillter Rippchen futtern konnten.
Ich bog links ab und wanderte durch die Straßen, auf der Suche nach einem einladenden Lokal. Der Himmel, der langsam dunkel wurde, setzte meinem ziellosen Treiben ein Ende und ich ging in die erste Bar, die ich fand, bevor es zu nieseln begann.
Das Licht war schummrig und die Bar insgesamt ein wenig zu schick für meinen Geschmack, aber sie würde reichen. Trotz der frühen Stunde hatten sich schon einige Gäste für einen Absacker nach einem langen Arbeitstag an der Bar versammelt, tranken Bier und beglückwünschten einander wahrscheinlich dazu, eine weitere Woche in der amerikanischen Geschäftswelt überlebt zu haben. Ein Platz an der Bar wurde frei und ich stürzte mich darauf, während ich meine Jacke in einer besitzergreifenden Bewegung über die Lehne des Barhockers hängte. Ich setzte mich und wartete darauf, dass der Barkeeper mich bemerkte. Dreißig Sekunden später schlenderte er in meine Richtung, schob mir eine Serviette zu, stellte eine Schale mit Erdnüssen ab und nickte mit dem Kinn.
„Was nehmen Sie?“
Ich hatte eine Regel. Kein Alkohol vor halb sieben.
Ich warf einen Blick auf die Uhr hinter der Theke.
Eine Minute vor sechs.
Ach, scheiß drauf.
„Gin und Tonic, bitte. Aber einen großen.“
Der Barkeeper gluckste, schaufelte Eis in einen Tumbler und gab einen kräftigen Schluck Gin dazu. „Schlechter Tag?“
Ich verdrehte die Augen. „Sie haben ja keine Ahnung.“
Er stellte den Drink vor mich und fügte zwei Zitronenscheiben hinzu. Ich warf einen Blick auf sein Namensschild. Saul.
„Hey, Saul?“
Er hob eine Augenbraue. Vielleicht aus Überraschung darüber, dass ich seinen Namen gelesen hatte. Oder vielleicht, weil ich ihn benutzt hatte.
„Ja, Ma’am?“
„Können Sie mir einen Gefallen tun?“
Seine Augenbraue wanderte weiter nach oben. „Kommt darauf an, welchen.“
Ich lachte auf. „Keine Sorge. Ich baggere Sie nicht an. Sie haben recht. Ich hatte den schrecklichsten Tag aller Zeiten und meinen Kummer auf dem Boden eines Gin-Glases zu ertränken, klingt zwar nach einer guten Idee, ist aber eigentlich keine. Ich möchte, dass Sie mir nur drei Drinks servieren. Danach sollen Sie mir sagen, dass ich gehen soll. Einverstanden?“
Mich volllaufen zu lassen und noch über meine eigenen Füße zu stolpern, würde mir auch nicht auf der Karriereleiter nach oben verhelfen. Und ein Kater und ein vierstündiger Flug waren eine Garantie für eine miserable Heimreise.
Saul blinzelte. „Geht klar.“
Er ging an der Bar ein Stück nach unten, um den nächsten wartenden Gast zu bedienen. Ich nahm meinen G&T in die Hand, trank ein Drittel davon in einem Zug leer und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund.
„Wenn Sie in diesem Tempo trinken, ist es wahrscheinlich eine gute Idee, Ihren Konsum einzuschränken“, sagte eine raue Stimme, in der Belustigung mitschwang.
Ich drehte meinen Kopf, um zu sehen, ob der Besitzer optisch zu der köstlichen Stimme passte.
Ohhh, das kann man wohl sagen.
Das dunkelbraune Haar des Fremden war im Nacken kurz geschnitten und seine topasfarbenen Augen funkelten schelmisch. Dazu ein kantiges Kinn mit Bartstoppeln, die so fein säuberlich getrimmt waren, dass die Bezeichnung Designer-Stoppeln keine Übertreibung war, definierte Wangenknochen und eine perfekte Nase und … ding, ding, ding … Heißer-Typ-Alarm.
Ich ließ meinen Blick über ihn wandern. Sein Anzug war gut geschnitten und er hatte ihn mit einem frischen weißen Hemd und einer Krawatte kombiniert, die zur Farbe seiner Augen passte. Ich würde die dreißig Dollar, die ich in der Handtasche hatte, darauf verwetten, dass das pure Absicht gewesen war. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit auf seine Hand, die einen Tumbler aus geschliffenem Glas hielt. Er trank Whiskey oder Scotch, oder vielleicht Bourbon. Jedenfalls etwas, das die Farbe von Ahornsirup hatte. Es passte zu ihm. Viel besser als eine Flasche Bier oder ein Glas Wein.
Ich rutschte nervös auf meinem Barhocker herum. „Ich nehme an, Sie sind die Art von Mann, der immer die Kontrolle hat.“
Seine Mundwinkel hoben sich kaum merklich, was ich als Zeichen seiner Belustigung auffasste.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Nur so ein Gefühl.“ Ich zuckte mit den Schultern.
Er lächelte und ich kam in den Genuss eines kompletten Satzes perfekter, weißer Zähne, die zu seiner perfekten Nase und seinen ebenso perfekten Wangenknochen passten. Und diese umwerfenden Augen … jemand sollte an dem Mann ein Warnschild anbringen, auf dem in blinkender roter Neonschrift stand: Frauen, hütet eure Eierstöcke.
„Was sehen Sie noch?“
Ich tippte mir mit drei Fingern an die Lippen und nahm seine Frage als Anlass, unverhohlen von Kopf bis Fuß in seinem Anblick zu schwelgen. Es gab keinen Zweifel. Ich saß neben einem ausgesprochen attraktiven Exemplar von einem Mann, der mich ganz offensichtlich in ein Gespräch verwickeln wollte. Diese Tatsache konnte ich genauso gut ausnutzen. Eine Stunde harmlosen Geplänkels würde Wunder bewirken, um meinen schwindenden Lebenswillen wiederzubeleben.
„Hmm.“ Ich ließ meinen Blick wieder über ihn gleiten und bemerkte die teure Uhr an seinem linken Handgelenk, die manikürten Nägel und die makellose Haut. Die italienischen Lederschuhe und den Schnitt seines Anzugs. „Sie sind wohlhabend. Erfolgreich. Ein bisschen eitel. Gewohnt, Ihren Willen durchzusetzen. Sie nehmen nicht gern Befehle entgegen, also arbeiten Sie allein. Sie mögen die schönen Dinge des Lebens.“
Die Sache machte mir Spaß und ich erlaubte mir, meiner Fantasie freien Lauf zu lassen und mir spontan etwas auszudenken.
„Ihre Mutter hat Sie als Kind verwöhnt und Sie streben immer noch nach der Aufmerksamkeit und Anerkennung Ihres Vaters. Sie sind das älteste Kind, mit einem oder vielleicht zwei Geschwistern. Sie stammen aus einer Familie, deren Mitglieder sich sehr nahe stehen, in der es allerdings auch viele willensstarke Persönlichkeiten gibt, so dass es viele Streitereien gibt, und wenn Sie sie nicht gewinnen, schmollen Sie, weil Sie extrem wettbewerbsorientiert sind und es nicht akzeptieren könnten, wenn Sie verlieren oder nicht bekommen, was Sie wollen. Was die Frauen betrifft, so sind Sie nicht der Typ, der sich niederlässt. Sie schöpfen aus dem Vollen, genießen die Auswahl am Buffet. Eine Frau wird Sie niemals zähmen.“ Ich grinste und hob meine Hände mit den Handflächen nach oben. „Und? Habe ich recht?“
Seine Augen flackerten auf, aber er hatte seine überraschte Reaktion in einer Mikrosekunde unter Kontrolle. Wow! Vielleicht hatte ich ja mit einer oder zwei meiner Vermutungen einen Volltreffer gelandet.
Ein herzhaftes Glucksen polterte durch seine Brust. „Das alles können Sie nach einer dreißigsekündigen Begegnung über mich sagen?“
Ich hob das Glas an meine Lippen und trank einen Schluck, diesmal genüsslicher. „Um fair zu sein, habe ich nur zwanzig Sekunden gebraucht.“
Er schwenkte sein Getränk. Das Eis klirrte gegen den Rand. Er starrte in die bernsteinfarbene Flüssigkeit, dann nahm er einen Schluck und sah mir in die Augen. „Nicht übel.“
„Mit welchen Teilen liege ich falsch?“
Seine Lippen verzogen sich zu einem halben Lächeln. „Das überlasse ich Ihrer Fantasie, die, wie ich hinzufügen möchte, ziemlich blühend ist.“
„Danke. Meine Mutter würde Ihnen zustimmen.“
„Bin ich jetzt dran?“
„Nein.“
Er legte den Kopf schief. „Das ist aber nicht besonders fair.“
„Das Leben ist nicht fair. Und außerdem haben Sie mich gefragt. Ich Sie aber nicht. Ich hatte schon einen beschissenen Tag, ohne dass ich mich auch noch Ihrer Psychoanalyse unterziehe.“
„Ist wahrscheinlich auch besser so. Ich wäre schrecklich darin.“
Er zeigte mit dem Finger auf Saul und erst da wurde mir klar, dass ich meinen Gin ausgetrunken hatte. Saul füllte unsere Gläser nach und mein Fremder stieß sein Glas gegen meines.
„Wie heißen Sie?“, fragte ich.
„A-Anthony.“
Ich rieb meine Lippen aneinander. Ein Zögern bei einem so selbstbewussten Mann wie ihm konnte nur eines bedeuten: Er hieß nicht Anthony.
„Und Sie?“
„Ethel.“
Er lachte, ein Geräusch, nach dem ich schnell süchtig zu werden drohte. „Sie sind keine Ethel.“
„Und Sie sind kein Anthony, aber wenn Sie mir einen falschen Namen nennen, dann werde ich es Ihnen mit barer Münze heimzahlen.“
Das Flackern in seinen Augen hielt dieses Mal länger an. „Sie sind eine scharfsinnige Frau, Ethel.“
„Danke.“
Wir verfielen in Schweigen, ein Zustand, in dem ich mich nie sonderlich wohlfühlte. Ich neigte dazu, die Stille mit sinnlosem Geschwätz zu füllen und brachte mich dabei meist in Schwierigkeiten. Also starrte ich auf mein Glas. Ich spürte seinen Blick auf mir und es kostete mich all meine Kraft, ihm nicht in die Augen zu sehen.
„Haben Sie schon gegessen?“
Wie aufs Stichwort knurrte mein Magen wieder. „Noch nicht, nein.“
Er warf ein paar Scheine auf den Tresen, stand dann auf, nahm meine Jacke von der Lehne des Barhockers und hielt sie mir hin.
„Würden Sie mir erlauben, Sie zum Essen einzuladen, damit Sie mir von Ihrem beschissenen Tag erzählen können?“
Ich kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schief. „Mit einem Mann essen zu gehen, den ich gerade erst kennengelernt habe und der mir einen falschen Namen genannt hat, klingt wie eine kostenlose Fahrt ins Leichenschauhaus.“
Seine Schultern bebten, als er ein Lachen unterdrückte. „Ich verspreche, ich bin kein Serienmörder.“
„Das sagen sie alle.“
„Ist das so?“ Seine Stirn legte sich in Falten. „Wie vielen Serienmördern sind Sie denn schon begegnet?“
Ich unterdrückte den Drang, ihm die Zunge herauszustrecken. Vierundzwanzigjährige Frauen konnten sich so etwas Kindisches nicht mehr erlauben. Jammerschade. „Das sagen sie wahrscheinlich alle.“
Er sah sich in der Bar um. „Wären Sie einverstanden, mit mir zu essen, wenn wir hier blieben? Dann könnte Saul Sie beschützen. Ich meine, Sie kennen ihn schon fünfundvierzig Sekunden länger als mich, also sollten Sie bei ihm sicher sein.“
Diesmal war ich mit Lachen dran und ich hielt mich nicht zurück. „Das ist allerdings ein sehr gutes Argument, Fake-Anthony.“
„Ich bin froh, dass Sie das so sehen, Fake-Ethel.“
Er ging mit meiner Jacke weg und ich folgte ihm eilig. Als ich ihn einholte, hatte er bereits mit der Kellnerin gesprochen und sie führte ihn zu einem Tisch.
Ist das zu fassen? Ich esse mit einem Fremden zu Abend.
Das sollte ich eindeutig auf meine To-Do-Liste setzen, schon allein wegen der Genugtuung, es abhaken zu können.
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